Montag, 20. Juni 2016

Ich bin angfressen!

Eigentlich heißt dieser Blog ja "Sarah ganz weit weg".
Naja, so ganz weit weg bin ich ja jetzt nicht mehr, in Wien lebend und studierend. Oder vielleicht doch, weil zu meinen kenianischen Freunden und Freundinnen ist es jetzt ja schon ein ganz schönes Stück. Da kommen die meisten aber auch nicht dazu, das hier zu lesen, Sprachbarriere und so. Aber das ist ja jetzt auch nebensächlich.

Ich hab gedacht, ich muss wieder schreiben. Nicht über Kenia, über ganz weit weg, sodern über hier und jetzt und Österreich und Europa und überhaupt. Weil seit ein paar Wochen hat mich eine gewisse Unruhe ergriffen, und ich überlege, was ich damit anfangen kann. Weil ich mir anschau, was so passiert, mit Österreich und seiner Gesellschaft, mit Europa und den Menschen, die hier leben und die hierher kommen. Ich muss zugeben, ich habe die Medien sehr lange immer nur am Rande mitverfolgt, politischen Geschehnissen nur marginal meine Aufmerksamkeit geschenkt und war mehr mit meinen eigenen Interessen beschäftigt. Und ich werde jetzt hier keine neuen Erleuchtungen präsentieren, nichts sagen, was nicht schon gesagt wurde, ich bin nicht der informierteste Mensch und kann sicher niemanden belehren. Aber in den letzten Monaten habe ich mich zunehmend geärgert, kam mir hilflos und wie ein hoffnungsloses Naivchen vor, das plötzlich in die Realität geworfen wird. Wenn man schon von der berühmten Blase spricht. Und ich hab überlegt, was ich machen kann. Den ersten Gedanken - "naja, eigentlich eh nix" - will ich nicht mehr akzeptieren. Weil tun kann man immer was.

Manche Leute gehen auf Demos. Andere engagieren sich in Vereinen. Wieder andere teilen ihre Meinung auf Facebook. Alles nicht so meins. Ich halte mich meistens zurück, meine Meinung öffentlich in sozialen Medien zu formulieren. Weil es mich manchmal selber nervt, dauernd Missstände unter die Nase gerieben zu bekommen, und wenn sich gerade Tausende zu einem hochaktuellen Thema äußern, kommt mir mein persönlicher Beitrag dazu meistens überflüssig vor. Naja, genug davon, ich will dies hier nicht zu einem Beitrag zur Rechtfertigung meines persönlichen Verhaltens verkommen lassen. Also, ich bin angfressen, und ich will was tun. Und ich hab mal darüber nachgedacht, was ich tun kann, und da ist mir eben das Schreiben eingefallen. Und wenn es nur eine veröffentlichte Selbsttherapie wird, weil mir danach einfach ein bisschen leichter wird, auch gut!

Warum ich angfressen bin? Was ich eigentlich sagen will? Ich bin angfressen, weil ein Norbert Hofer die Hälfte der Wählerstimmen bekommt. Ich könnte stundenlang darüber wettern, was auf rechtsextremen Facebook-Seiten für Aussagen gemacht werden, ohne dass die Autoren zur Ordnung gerufen werden. Und damit meine ich nicht nur die Klassiker wie Straches Fanpage oder die von Hofer. Ich hab vor Kurzem angefangen, mir das mal faustdick zu geben und die Masse an fragwürdigen Seiten zu durchforsten. Weil ich es wichtig finde, zu wissen, wie diese Menschen denken und womit sie argumentieren. Und was man da findet, das hat mich wirklich wütend gemacht. Seit ich immer wieder solche einschlägigen Seiten besuche, bekomme ich von Facebook auch permanent neue vorgeschlagen. Ich brauche mich gar nicht mehr zu bemühen, zu suchen, die Seiten finden mich. Und gegen manche dieser Seiten sind die HC Strache Fanpage harmlos. Ich habe also angefangen, Seiten, die mich schlichtweg fassungslos gemacht haben, zu melden. Die Rückmeldung von Facebook war ausschließlich: "Diese Seite verstößt nicht gegen unsere Gemeinschaftsstandards." Nachstehend noch der Hinweis, dass ich einzelne Beiträge melden könne, dann würden die  Seiten genauer überprüft werden. Also habe ich mir die Gemeinschaftsstandards von Facebook noch einmal durchgelesen und mir angeschaut, welche Beiträge ich melden könnte. Und das war frustrierend, weil ich sehr wenige gefunden habe. Denn es ist mir schon klar, dass auch Menschen mit anderer Meinung diese ausdrücken dürfen müssen. Und solange bei diesen Posts keine direkten Angriffe oder Beleidigungen auftreten, kann ich verstehen, dass man diese nicht löschen kann. Und wenn in den Kommentaren steht, dass man Flüchtlinge erschlagen sollte, dann hat damit offenbar der Seiteneigentümer nichts zu tun. Ich habe dann angefangen, derlei Kommentare zu melden. Aber ganz ehrlich, da wirst du alt dabei, und dafür war mir meine Zeit dann auch zu schade. Zurück zu dem Problem, das ich mit diesen Seiten habe: sie posten Artikel über Ereignisse, die sich schon so zugetragen haben mögen. Das Gefährliche sind die Verbindungen, die sie herstellen, und die Generalisierungen. Und die Tatsache, dass sie eine Plattform bieten für eindeutig hetzerische, rassistische Aussagen, animiert durch die Posts auf solchen Seiten.

Wem das alles zu abstrakt ist, was ich hier gerade sage, der möge sich ein Bild machen an einem Beispiel von vielen:

https://www.facebook.com/BewareOfIslam/?fref=ts

Kurz gesagt beschreibt sich diese Seite als islamkritisch und stellt alle Muslime als Islamisten dar. Mehr will ich gar nicht sagen, ich habe jetzt schon das Gefühl, dieser Text hier wird endlos lange.

Ich bin also auch angfressen auf Facebook, weil es nicht gegen Gemeinschaftsstandards verstößt, offen beleidigend, hetzerisch und diskriminierend gegen andere Gruppen vorzugehen. Dass es okay ist, den Wunsch zu äußern, andere Menschen mögen auf eine gewaltsame Weise zu Tode kommen.

Das machen aber nicht nur die Rechtsextremen. Es gibt auch von linken Gegenbewegungen Aktionen, auf die ich angfressen bin. Ich habe den Spieß umgedreht und auch hier zu suchen begonnen, und es gibt sehr wohl linksorientierte Seiten, die Hiebe weit unter der Gürtellinie austeilen. Und auch wenn ich über manche der Witze und Posts im ersten Moment schmunzeln muss, stellt sich dann trotzdem die Frage: Was soll das? Hat es denn schon jemals, im Kleinen oder im Großen, irgendetwas genutzt, auf einem solch niedrigen Niveau jemanden davon zu überzeugen, seine Einstellung noch einmal zu überdenken und dem Gegenüber Gehör zu schenken? Ist da schon jemals ein Dialog entstanden? Ich denke, das Größte, das dabei rauskommen kann, sind sich gegenseitig ins Gesicht geschrieene Monologe, bei denen der Andere nur zuhört (wenn überhaupt), um etwas dagegen sagen zu können, nicht um das Gesagte irgendwie zu verstehen (diese Formulierung habe ich leicht abgewandelt von einem Ted-Talk geklaut - https://www.youtube.com/watch?v=R1vskiVDwl4). Wenn ich so etwas sehe, denke ich mir nur: Warum? Bitte, erklärt es mir! Ich will es wissen, genauso wie ich wissen will, warum es diesen Fremdenhass gibt.

Dass Angst dabei eine Rolle spielt, dem stimme ich bedingt zu. Xenophobie, die Angst vor dem Fremden, die zu Rassismus wird. Aber ab einem gewissen Punkt wird es für mich zu einer faulen Ausrede. "Ich bin nicht rassistisch, ich habe nur Angst." Okay, wenn man Angst vor Spinnen hat, nimmt man den Schlapfen und schlägt sie tot. Oder lässt sie von jemand anderem totschlagen. Oder entfernt sie einfach. Aber das können wir mit Menschen nunmal nicht tun (und sollten vielleicht bei Spinnen auch nicht). Und wenn ich Angst vor etwas habe, muss ich mich dieser Angst stellen. Ich muss herausfinden, warum ich Angst habe und schauen, ob diese Angst denn begründet ist. Wenn ich Prüfungsangst habe, werde ich auch versuchen, diese in den Griff zu bekommen, oder ich verwirkliche aus lauter Angst meine Träume nicht und führe vielleicht ein unzufriedenes Leben. Man kann den Gedanken ja selbst weiterspinnen.

Die Angst also, die dann Gewalt legitimiert. Und dann jene, die zu Gewalt gegen Gewalt aufrufen. Und dann die Gewalt gegen Gewalt gegen Gewalt? Warum muss ich bei einer Demonstration mit Glasflaschen und Steinen werfen? Und warum muss ich bei einer Demonstration mit Glasflaschen und Steinen werfen, weil die anderen das auch tun? Drängt sich die Sinnlosigkeit dieses Verhaltens nicht mit schmerzhafter Eindeutigkeit auf?

Ich bin angfressen, weil man sich wie Kinder am Spielplatz streitet.
 "Du denkst das, das ist falsch, du bist dumm."
- "Nein, du denkst falsch, du bist dumm."
Das können wir doch besser! Wenn mir jemand unter der Gürtellinie daherkommt, dann gebe ich ihm doch nicht die Befriedigung, mich darauf einzulassen. Weder auf persönlicher noch auf gesellschaftlicher und schon gar nicht auf politischer Ebene.

Worauf ich noch angfressen bin: sexualisierte Gewalt. Die Tatsache, dass Frauen, die öffentlich eine Meinung vertreten, mit so komplexen und vielschichten Formen von Drohungen und Gewalt umgehen müssen. Die Tatsache, dass es einfach immer noch etwas anderes ist, wenn Frauen sich zu Wort melden, als wenn Männer das tun. Die Tatsache, dass so viele Leute des Feminismus schon überdrüssig sind. Ich nehme mich da nicht aus. Vor ein paar Jahren hab ich noch gesagt, ich bin Antifeministin, weil ich einfach nicht wusste, was Feminismus eigentlich genau ist, und wo er wirklich überall greift. Weil ich die Debatte über die Änderung des Textes unsere Nationalhymne lächerlich fand (wobei ich sagen muss, die Energie hätte man trotzdem besser in andere Bereiche der Gleichberechtigung von Frauen und Männern stecken können). Ich bin angfressen, dass so ein großes Ding ist, seine Sexualität zu definieren, ob man Männer liebt, ob man Frauen liebt, ob man Männer und Frauen liebt, ob man selbst Mann, Frau oder irgendwas dazwischen ist. Und dass es so eine große Sache ist, wenn man nicht dem als "richtig" kommunizierten Bild der Öffentlichkeit entspricht. Dass es überhaupt ein "richtiges" Konzept gibt. Dass eine Partei Homosexualität als "anatürlich" bezeichnet. Dass eine Partei Homosexuellen ihre Rechte nehmen will, und dass Homosexuelle überhaupt eigene Rechte brauchen. Warum können nicht einfach Menschen Menschen lieben, und damit basta?

Ich weiß, sudern ist leicht. Man kann immer alles schnell und gut kritisieren. Viel schwieriger ist es, Lösungen zu finden, Lösungsvorschläge zu machen. Ich habe leider auch recht wenige. Was mir in dieser ganzen Debatte, ob das jetzt Frauenrechte, Homophobie oder Fremdenfeindlichkeit ist, auffällt, ist, dass man zu wenig zuhört, zu wenig versucht, zu verstehen. Um jemandem erfolgreich in einer Diskussion widersprechen zu können, muss ich zuerst verstanden haben, was diese Person eigentlich meint. Und wenn ich verstanden habe, muss ich darüber nachdenken, warum ich anders denke, und das der anderen Person begreiflich machen. Vielleicht kommt am Ende raus, dass die Ansichten ja gar nicht so unterschiedlich sind. Vielleicht ist in irgendeinem Gedankengang der Hund drin, und man muss diesen Gedankengang mal Schritt für Schritt durchgegangen sein, um den Fehler aufzudecken. Das ist ja auch so, wenn in Mathematik ein anderes Ergebnis rauskommt, als erwartet. Man muss etwas zumindest ansatzweise verstehen, um es bearbeiten zu können. Und man lernt auch vieles dazu, wenn man sich bemüht, zu verstehen. Reden, zuhören, verstehen. Nicht schreien, und mit Beleidigungen und Dingen um sich werfen. Auf beiden Seiten. Ich weiß, das ist schwierig, und ich stoße auch immer wieder an meine Grenzen, wenn ich in einem Thema einfach zu emotional drinstecke. Es erfordert eine Engelsgeduld und eine hohe Frustrationsgrenze. Aber einer muss immer anfangen, der oder die G'scheitere zu sein. Sonst wird das nix.

Aber wie gesagt, eigentlich nichts Neues. Keine Offenbarungen in diesem Text, vielleicht eher eine Zusammenfassung dessen, was sich manche denken oder nicht denken. Warum ich das schreibe, ist, weil das mein Versuch ist, etwas zu tun. Dazu wurde ich in letzter Zeit von anderen Menschen ermutigt, die ebenfalls ihre Meinung sagen, einfach, damit sie gesagt ist. Und ich finde das toll! Ich möchte hier kein schlechtes Gewissen machen, oder Moralpredigten vom Stapel lassen. Aber ich nehme das hier als Möglichkeit, etwas zu tun, und will sagen: Wenn ihr was machen wollt, tut es einfach! Wenn ihr was sagen wollt, raus damit! Lasst euch nicht einschüchtern von der Reaktion der anderen.

Man muss keinen Verein gründen, nicht sein Leben einer Sache verschreiben, Großartigkeiten vom Zaun brechen. Es reicht vielleicht, sich mit den blauwählenden Großeltern (na, wenn ich mich da keines Klischees bediene) zuhause hinzusetzen, und sie einfach mal zu fragen, warum sie denn diese Partei so toll finden. Und ihnen zeigen, was  das bedeutet. Vielleicht wird das frustrierend, vielleicht wird man aber auch überrascht. Zuhören kann manchmal Wunder bewirken. Wenn sich das Gegenüber in seiner Person und Überzeugung respektiert sieht, ist es auch viel offener für andere Sichtweisen. Wenn mir jemand gleich kommt mit "Dein Text ist scheiße!" bin ich schon viel weniger gewillt, der darauffolgenden Kritik zuzuhören, als wenn es heißt "Ich respektiere deine Meinung, aber ich kann dir da nicht zustimmen, WEIL...".

Oder man informiert sich, denkt über etwas nach, diskutiert mit anderen, begibt sich manchmal aus seiner Komfortzone, aus seiner "Blase" und schaut sich an, was die Menschen außerhalb des Freundeskreises eigentlich denken. Seid kreativ! Wenn wir etwas in der Gesellschaft ändern wollen, müssen wir bei uns selbst ansetzen!